Rocamadour - das senkrechte Dorf
City Tours
Produktion : © 2022
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Oft wurde ich schon darauf hingewiesen, wie schön Rocamadour sei. Und endlich haben wir es geschafft, hierher zu kommen. Wir finden ein Dorf. Ein mittelalterliches Dorf. Wie so viele hier im Tal der Dordogne. Es liegt auf verschiedenen Ebenen, die mit Treppen verbunden sind - und durch zwei Fahrstühle, die einen hinauf- und herunterbringen.
Im Prinzip gibt es in Rocamadour nur eine Strasse, die sich sanft vom Boden des Tals in die Höhe windet. Rechts und links befinden sich Geschäfte, Restaurants, Hotels.
Es ist September, also Nachsaison. Dennoch sind erstaunlich viele Menschen unterwegs, die mit Bussen, in Campern oder ihren PKW angereist sind.
Dieser Ort ist tatsächlich schön. Hinter den mittelalterlichen Mauern verbirgt sich das 21. Jahrhundert. Technisch. Und auch sonst. Aber ist das der Grund für die vielen Besucher?
Die Geschichte des Dorfes bringt uns vielleicht näher an die Beantwortung dieser Frage.
Es hat tatsächlich eine lange Geschichte, da man weiss, dass Menschen hier mindestens 20.000 Jahre schon leben. In der Nähe, im heutigen Ortsteil L'Hospitalet, gibt es eine Höhle, in der etwa 20.000 Jahre alte Malereien zu finden sind. Und da es in den Klippen von Rocamadour viele kleine Höhlen gibt, wurden wenigstens einige von ihnen wahrscheinlich schon sehr, sehr lange als rituelle Orte genutzt. Ausserdem weiss man, dass es im 9. Jahrhundert hier bereits eine Art kleine Kapelle gab, die der Jungfrau Maria gewidmet war, und es ursprünglich zu einer ziemlich weit entfernten Abtei, der Abtei von Marcillac, gehörte. Sie fiel in die Hände eines besonders mächtigen Abtes, des Abtes von Tulle, der auf die Idee kam, hier eine grosse Pilgerfahrt zu entwickeln.
Zu seinem Glück half die Jungfrau Maria ein wenig nach, denn es wird erzählt, dass sie hier 1148 ein erstes Wunder vollbracht habe und dass sie zwischen 1148 und 1172 ungefähr 126 Wunder vollbrachte, die alle in einem Buch namens Le Livre des miracles de Notre-Dame de Rocamadour festgehalten wurden. Es erschien 1172, wurde in grossem Umfang verteilt und lockte sehr viele Pilger hierher.
Für diese Pilger wird Mitte des 12. Jahrhunderts das Heiligtum gebaut, das wir direkt gegenüber haben und das zu einem der grössten Heiligtümer des Mittelalters werden wird. Beim Bau dieses Schreins sollen im Jahr 1166 die Reliquien des heiligen Amador entdeckt worden sein, von dem es heisst, er sei ein Einsiedler gewesen, der vor vielen Jahren als erster die Ur-Abtei gegründet habe. Und so sollte dieser Einsiedler zur wichtigsten Persönlichkeit des Heiligtums werden.
Wer denkt, Marketing sei eine Erfindung der Neuzeit, irrt gewaltig. Die Verantwortlichen jener Zeit kannten das Wort sicher nicht, aber Wirkung und Voraussetzungen, um wirtschaftlichen Erfolg zu generieren: Die wichtigsten Reliquien sind vorhanden. Die wichtigsten Wunder sind dokumentiert. Von dem Zeitpunkt, an dem man Reliquien und Wunder hatte und dies auch bekannt wurde, begannen die Pilger sehr schnell in grosser Zahl zu kommen.
Rocamadour wird neben Jerusalem, Rom, Santiago zur viertgrössten Pilgerstätte des Abendlandes. Rocamadour ist heute eine Etappe auf dem Weg nach Santiago de Compostela. Im Mittelalter war hier das Ziel einer Pilgerreise mit jäührlich Tausenden von Pilgern, die nach Rocamadour wallfahrten.
Es sind immer noch Pilger, die einen grossen Teil der Touristen bilden. Vor allem Kirche, Schrein und die auf der obersten Ebene errichtete Abtei sind immer noch die Zentrale, von der aus die Pilgerströme koordiniert werden. Freiwillige Helfer aus aller Welt wohnen hier. Für die Benediktiner, die heute dieses Kulturerbe verantworten, ist es eine gewaltige finanzielle Anstrengung im sekularen Frankreich. Der Besucherbetrieb soll aufrecht erhalten werden, was auch die Gebäude betrifft ... und die benötigen zu grossen Teilen dringend einer Sanierung. Ob es gelingt, hängt am Geld - ob die benötigten rd. 6 Millionen Euro, von denen wir hörten, zusammenkommen, ist noch nicht sicher. Es bleibt spannend.
Nach so viel Geschichte bleibt die Frage übrig, ob die Empfehlungen, die ich bekommen hatte, meine Erwartungen erfüllt haben. Die Antwort ist ein klares "Ja". Wir sind mit den Besuchern mitgeschwommen, haben - was uns sehr wichtig ist - nette Leute getroffen und sind zu der Erkenntnis gelangt, dass sich ein Tagesausflug in dieses Dorf lohnt, vor allem, wenn man sich auf die Einheimischen einlassen will.